Hahnenklee im Dritten Reich – Erinnerungen an die Kindheit
- Luftkämpfe -
Spannend waren die Luftkämpfe über Hahnenklee. Bei zumeist wolkenlosem Himmel, dabei erregt im Gras liegend, konnten die Jungen und Mädchen von der „Clique“ gleichsam wie im Kino den Kampf der Jagdflieger beobachten. Im Aufheulen der Motoren ratterten die Bordkanonen ihr böses „Tak, Tak, Tak“, und schon drehte die verfolgte Maschine blitzschnell zur Seite weg, flog einen Looping, dann wieder raste sie pfeilschnell auf die Erde zu, und der Junge dachte schon, dass nun das Ende von Pilot und Maschine käme. Doch plötzlich stürmte der Jäger himmelwärts und jagte seinerseits seinen Verfolger. So wogte der Luftkampf hin und her, bis eine Maschine getroffen war und eine grauschwarze Rauch- und Ölschleppe hinter sich herzog. Da wussten die Kinder, dass der Fallschirm des unterlegenen Piloten schon bald als weißer Punkt am Himmel sichtbar sein würde. Sie hatten allemal Mitleid mit dem Verlierer, und sie bewunderten den Sieger, zumal wenn es ein deutscher Pilot war. Der Abschuss eines Jagdfliegers über dem Ort in der Woche vor Heiligabend entbehrte nicht der Tragik, weil der Soldat, der dabei ums Leben kam, ein junger Mann aus Hahnenklee gewesen war.
Dr. Streichelmeier
Zum Ende des Jahres musste ich als „Zögling“ der Hahnenkleer Dorfschule der gewohnten Schiefertafel entsagen. Ab sofort waren Rechen- und Schreibhefte gefordert, in die die Hausaufgaben mit Tinte zu schreiben waren. Im einzigen Geschäft am Ort, das entsprechende Erzeugnisse anbot, gab es nur Schulhefte in kriegsbedingter Qualität, also massiv holzhaltig und für das Beschreiben mit Tinte so gut wie ungeeignet. Meine ersten Übungen mit der spitzen Stahlfeder endeten denn auch mehr als kläglich. Doch mit Flennen ließ sich das Problem nicht lösen, darum übte ich fleißig weiter und brachte nach zahlreichen Versuchen lesbare Buchstaben zu Papier. Ich dachte dabei immer mal wieder an die vermaledeiten „B´s“, die meine ungeübte Schreibhand in bizarre Arabesken verformt hatte - wenn sie sich nicht schon vorher in abscheuliche Tintenkleckse verwandelt hatten. Ich argwöhnte, dass die Kleckse oder die Umstände, die zu den Klecksen führten, schuld daran waren, dass ich plötzlich stotterte. Ja, so unglaublich das klingen mag, ich stotterte entsetzlich. Von einem Tag auf den nächsten litt ich an dieser Sprachstörung und seltsam genug, sie trat vorwiegend in der Schule auf. Zu Hause oder in der „Clique“ hatte ich damit kaum Probleme. Für meine verstörten Eltern gab es da nur eine Lösung und die hieß „Dr. Streichelmeier“. In Wirklichkeit hieß der Mann Steinmeier. Er war auch kein Doktor, aber wegen seiner „magnetischen“ Heilmethoden weit über Hahnenklee hinaus bekannt, ja, man muss sagen, dass selbst Ausländer seinen Fähigkeiten vertraut hatten - vor dem Krieg, versteht sich. Steinmeier praktizierte in einer alten, am Stadtrand von Hahnenklee gelegenen Villa. Dorthin schleppte mich eines Tages mein Vater. Nicht jede Einzelheit der „magnetischen“ Therapie ist mir im Gedächtnis geblieben, aber das fiese Gefühl, das„Streichelmeiers“ Hände in mir auslösten, wenn sie streichelnd über meinen Kopf und meinen nackten Oberkörper glitten, während der Mann sich keuchend über mich beugte, war mir lange gegenwärtig. Allein der Anblick seines unappetitlichen Schweißes, der mir auch noch aufs Gebein tropfte, bewirkte, dass ich mich intensiv bemühte, nicht zu stottern. So stellte sich bereits nach wenigen Therapiestunden der ersehnte Heilerfolg ein. „Doktor Streichelmeiers“ magnetische Heilmethode war wieder einmal erfolgreich gewesen.
Hahnenklee im Dritten Reich – Erinnerungen an die Kindheit
Eisvergnügen
Über Nacht hatte der Frost den „Kuttelbacher See“ in eine glitzernde Eisfläche verwandelt. An den folgenden Tagen pickten Arbeiter an unterschiedlichen Stellen Löcher in die Eisdecke, um deren Festigkeit zu prüfen. War das Eis dick genug, befuhr ein Kradfahrer vom Heer mit seiner schweren Beiwagenmaschine den zugefrorenen See, um gleichsam im finalen Test die Tragfähigkeit des Eises zu bestätigen. Nach der Kapitulation übernahm diese Aufgabe ein Soldat der britischen Armee, der mit einem Jeep - so wie im Winter davor der Deutsche mit seinem Krad - mehrere Runden auf der Eisfläche drehte. Hinterher gab der Dorfpolizist höchst selbst diese zum Schlittschuhlaufen frei. Gewechselt hatte nur dessen Uniform – das Eisaufhacken, der finale Test und am Ende die Freigabe durch den Ordnungshüter liefen in ihrer Kontinuität so ab, als habe es nie und nimmer einen Regimewechsel gegeben. Unsere Eltern sahen der Saison auf dem Eis stets sorgenvoll entgegen. Ihre Besorgnis galt dabei weniger den Blutergüssen und Verstauchungen, die wir uns beim Toben auf dem Eis einhandelten, als vielmehr dem Schuhwerk, das dem ruinösen Einwirken der Befestigungskrallen auf Absätze und Sohlen häufig nicht widerstehen wollte. Abgerissene Absätze und Sohlen waren oft der Auslöser für großen Ärger daheim. Schuld daran waren in allen Fällen die scharfkantigen Krallen aus Eisen, mit denen die Eisgleiter am Absatz und an der Schuhsohle anmontiert wurden. Doch den Ärger daheim nahm ich so hin. Weder ich noch die anderen aus unserer Clique dachten auch nur eine Sekunde daran, dem Vergnügen auf dem Eis freiwillig zu entsagen. Im Winter 45/46 fanden wir auf dem Eis einen neuen Freund. Der war freundlich, ruhig und ausgeglichen, was den zu schätzenden Charakter anbelangte, aber geradezu massig mit hoher Schulter und dichtem Fell, was die Figur betraf – ein „Neufundländer“ eben. Das „Kalb“, wie wir den Hund respektlos nannten, gehörte einem Offizier der britischen Armee, der viel Zeit darauf verwandte, hinter seinem Hund herzurennen, um den Ausreißer wieder an die Leine zu nehmen. Der riss sich ständig los, weil er es liebte, auf dem zugefrorenen See herum zu toben. Laut bellend und munter mit dem Schwanz wedelnd rannte er übers Eis und zog dabei gleich zwei von uns hinter sich her. Dem „Kalb“ war es einerlei, ob wir uns an seiner Rute oder am zotteligen Fell seiner Flanken festkrallten.
Hahnenklee im Dritten Reich – Erinnerungen an die Kindheit
Einmarsch
Mit der kampflosen Einnahme des Ortes durch das 333. Amerikanische Infanterieregiment am 11. April 1945 war für die Bewohner von Hahnenklee der Krieg zu Ende.
Im Postgebäude erwartete man den Einmarsch der Amis. Ein Hausgenosse hatte die Nachricht verbreitet, dass deren Kampftruppen bereits Clausthal–Zellerfeld eingenommen hätten. Doch wusste niemand nichts Genaues. Meine Mutter wirkte gefasst. Sie war zwar stiller als gewöhnlich, aber, wie mir schien, von einer bestimmten Erwartung erfüllt. Vormittags hatte sie Vaters „Nazizeug“, wie sie sein Parteibuch und den Schinken „Mein Kampf“ nannte, entsorgt, d.h. in unserem Kohleofen verbrannt. Vermutlich wurde auch der Kriegsverdienstorden ein Opfer ihrer Vernichtungswut, weil er danach nie wieder auftauchte. Mein Vater hatte zu alledem nichts gesagt, er brütete, während meine Mutter die Zeugnisse seiner „politischen Verstrickung“ in den Ofen warf, etwas angestrengt in seinem Lieblingssessel vor sich hin. Mir hatte die Mutter schon vormittags verboten, nach draußen zu gehen. Also schlich ich von Fenster zu Fenster, bald einen Blick aus dem Küchenfenster auf den Posthof werfend, auf dem der rote Postomnibus stand, der noch vor der Besetzung von Goslar zu uns herauf gekommen war, bald einen neugierigen Blick aus dem Fenster unseres Wohnzimmers auf die Straße vor unserem Haus riskierend. Die Nazi-Herberge Deutsches Haus, sonst ein Ort überschäumender Betriebsamkeit, lag wie erstarrt da. Beim Betrachten der Straße, auf der es gewöhnlich lebhaft zuging, sich aber nun gar nichts mehr regte, bedrängte mich ein beklemmendes Gefühl, das durch die Stille, die seit dem Ende der Kampfhandlungen wie eine Haube über unserem Ort lag, noch um einiges verstärkt wurde.
Jäh zerreißt nerviges Kettengerassel die lautlose Stille. „Kommen jetzt die Panzer?“ erschaudert der Junge. Schon schiebt sich der erste langsam in sein Blickfeld, danach der zweite, bald rasselt ein halbes Dutzend dieser stählernen Ungeheuer am Haus vorbei die Straße hinunter. Aber was ist das? Er traut seinen Augen nicht und seine Befangenheit weicht rasch der Neugier, als er auf den Tanks bunte Schachteln entdeckt, die zu Pyramiden gehäuft vor und hinter den Panzertürmen liegen. Es sind, wie er sieht, Schokotafeln und Zigarettenpäckchen. Schokolade und Zigaretten als ein Teil der psychologischen Kriegsführung? Den Panzern folgen die Fußsoldaten. Sie halten ihre MPs und Sturmgewehre auf die Fenster und die Eingänge der Gebäude gerichtet. Alle Fenster sind zugesperrt. Noch vor der Inbesitznahme des Ortes hatten die Amis Flugblätter abgeworfen, in denen sie die Einwohner aufforderten, während der Besetzung des Ortes die Fenster geschlossen zu halten, auf geöffnete Fenster werde ohne Vorwarnung geschossen. Wenig später durchsuchen zehn Soldaten alle Diensträume des Postamt. Danach fordern sie mit schussbereiter Waffe im Anschlag rabiat Einlass in die Wohnungen. Gleich drei Amis stürmen in die Diele, drängen seinen Vater, der ihnen die Tür öffnete, zur Seite, durchsuchen die Küche, den Wintergarten und danach die Wohnung von Günters Mutter und die seiner Eltern. Dem Jungen wird schon etwas anders, als er die wilden Geräusche aus der Diele hört. Und sein Herz schlägt erst recht höher, als plötzlich ein baumlanger dunkelhäutiger Soldat mitten in ihrem Wohnzimmer steht. Der schwarze Riese sieht in seiner Kriegsmontur wirklich zum Fürchten aus. Anscheinend ist ihm seine Wirkung auf den Jungen nicht verborgen geblieben, denn er sagt mit rauer Stimme: “Do not Angst, I habe in America ein Junge in your age. Krieg is the worst for all Kinder!” *) Bevor er den Raum verlässt, schenkt er ihm einen Riegel Blockschokolade. Nachdem die Soldaten alle Wohnungen durchsucht haben, befehlen sie den ins Treppenhaus beorderten Hausgenossen, Quartiere für die Nacht bereitzustellen. Der Befehl löst allgemein Missmut aus, was den Amis nicht entgeht; ihr Ton wird gleich um einiges aggressiver. Retterin in der Not ist einmal mehr Eikes Mutter. Auf Englisch bittet sie die Soldaten, sie möchten doch in der geräumigen Wohnung des Amtsvorstehers nächtigen. Darin sei für sie alle Platz. Der Leiter sei ein Nazi gewesen. Die Soldaten akzeptieren ihre Bitte und marschieren geschlossen in Sperlings Wohnung, wo sie die Nacht über blieben.
*) diese Überlieferung habe ich von meinen Eltern!