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Thema: Hillebille

Hybrid-Darstellung

  1. #1
    Moderator Avatar von Bergmönch
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    Da tausendste "Hillebille" so großen Anklang gefunden hat, habe ich eine weitere Ausgabe herausgesucht und aufbereitet.

    Der Beitrag "Zopfabschneider" erschien am 29.03.1969 und ist von den Studentenunruhen dieser Zeit geprägt. Nicht nur in einer konservativen Kleinstadt wie Goslar sorgten die neuen Ideen und Sichtweisen der "68er" damals für Irritationen. Der sich dabei auch herausbildende Linksradikalismus wurde sicherlich im ehemaligen Zonenrandgebiet mit besonderer Sorge wahrgenommen. Interessant ist jedenfalls, das man schon 1969, selbst im dörflichen Umfeld des Harzes (Schladen), den Mut aufbrachte althergebrachtes in Frage zu stellen. Angesichts dieser Entwicklungen fürchtet Hillebille insbesondere um das lokale Brauchtum. Rückblickend war diese Sorge nicht ganz unbegründet.



    Mein Freund Bulke stieß einen tiefen Seufzer aus und sagte: “Baa klaanem komme ich nich mehr mit!”
    “Sie meinen die Wetterlage?” fragte ich. “Och, was, ich maane die ganze Schose, die allgemaane Lage. Menschenskind, wir steuern doch direktemang auf die Anarchie los! Se mögen kucken, wohin Se wollen, allerwägen is Opposition, Stunk und Auflehnung. In unserer Demokratie maant jeder, er könnte machen, wozu er Lusten hätte, und brauchte sich um die anderen nich zu schehren. Dabaa sitzen wir doch alle in aanem Potte. Ordnung un Autorität müssen saan, das sehen Se doch all baam unvernünftigen Vieh. Zum Baaspiel baa den Hühnern. Der Hahn oder die gescheuteste Henne sorgen for Ordnung, und die anderen müssen sich schicken. Oder haben Se schon mah erlebt, daß die Küken den Ton angeben? Und wenn Se die führende Henne in'nen Kochpott stecken, so übernimmt 'ne andere die Aufsicht über das Hühnervolk. Bloß baam Menschen wollen die Küken schlauer saan als die Glucke. Das fängt all in der Schule an. Na ja, die jungen wollen maastentaals anderster als die Ollen. Als wir noch junge Bengels waren, war's akerade so, aber daß die Älteren und Gescheuteren denen nich Contra geben, das kann und kann ich nich begraafen.”
    “Wir haben eine dere Zeit”, sagte ich, “vieles muß der Gegenwart angepaßt werden. Was früher gut und richtig war, gilt nicht für immer.”
    ,,Dat waat eck, eck bin ja nich detsch! Aber sie schütten es Kind mit dem Bade aus! Reformen sind nötig und die werden kommen, nur kann man nich alles von heute auf morgen umkrempeln. Fragen Se rnannemah die Kommunarden. Die wissen man bloß, was abgeschafft werden soll. Was se dafor setzen wollen, da haben die kaanen Versteh'stemich von.”
    “Mein lieber Bulke, die wissen ganz genau, was sie wollen.” - “So, was wollen se denn?” - “Die proletarische Revolution, den Rätestaat!” - ,,Ach du maane Güte! Was maanen Se woll, was aan kommunistischer Staat mit denen machen würde, wenn die da die Klappe so aufreißen täten! Die spunnten se alle baa, und denn müßten se zu erstemal in ihrem Leben arbaaten. Nee, das is ,so‘n bolschewistischer Grundsatz: Zuerst alles in Klump und Mus schlagen, ganz schnurz, was dabaa in die Binsen geht, und wie viele dabaa umkommen. Hernach wird denn wieder aufgebaut. Vergessen Se nich, daß die Bolschewlken dazu balle aan halbes Jahrhundert gebraucht haben. Zum Aufbauen, maane ich. - Na, un was is dabaa herausgekommen? Fraalich, wirtschaftlich geht’s ihnen bedeutend besser, aber sie haben die Zarendiktatur gestürzt, um anne Partaadiktatur aufzurichten. Baa uns schicken se kaanen nach Sibirien, aber alles, was nach Tradition riecht, is aan alter Zopp, der abgeschnitten werden muß. So is es in der Musik, Literatur, im Theater und der Maleraa. Wo andere Völker stolz auf wären, das muß baa uns weg. Paßt nich mehr in die Zeit. Da gibt es sogar ältere Leute, die haben es mit dem Fortschritt, wie's andere mit dem Durchfall haben. Auf aanmal geht es mit der Schulentlassungsfeier nich mehr, da muß was Neues her. Denken Se an die Fabiane in Schladen. Der Lehrer lehnt zwar nich die Autorität ab, wohl aber alles Autoritäre, und fordert die Schüler auf, sich dagegen zu wehren! Das hat er in saanem Leserbrief schriftlich gegeben.”
    “Er behauptete aber, seine Rede sei von der Berichterstattung entstellt wiedergegeben worden.”
    “Na, ja, is ja möglich, viellaacht is der Fortschrittsgaul mit ’ne durchgegangen und hernach hat er’s mit der Angst gekriegt. Wenn er das alles nicht gesaagt haben will, brauchen Rektor und Bürgermeister nich mit ihm zu diskutieren. Ich kann mir nich helfen, solche Menschen sägen an dem Ast, auf dem se sitzen. So sollen ee man waater machen, denn haben die Schulkinder balle mehr zu sagen als die Magister. Ne, es steckt da aan System hinter: Was mit Tradition und alten Bräuchen zusammenhängt, soll abgeschafft werden. Was wollen se uns dafor geben? Wahrsdiaanlich Sex und Krimis.
    Nehmen Se man die Bergmannsfastnacht. Die liegt doch all lange im Sterben, vom Maskenlauf der Bergleute nich zu reden. So verschwindet aans nach dem anderen. Fraalich, überall kommen mah Pannen vor. Auch baam Aanzug der 70 alten Männer und Frauen in unser Altershaam Theresienhof. Erstemah waren da die Handwerker noch im Gange. Überall standen Laatern, Farbpötte und Aamer rum. Zwaatens war viel zu wenig Personal da, um den alten Leutchen zu helfen. Zwaa Rotkreuzhelfer und aan Mann trugen die Gehbehinderrten auf'em Puckel bis in die Vorhalle. Noch nichemah die Zimmer waren aangerichtet. Ich maane, konnten die nich noch'n paar Tage lauern, bis das Haus bezugsfertif war? Als damals das Krankenhaus umzog hat es doch prima geklappt. Warum ging es da denn nich?
    Nu wollen se ja an der Blaache aan neues Umschulungswerk bauen. Hoffentlich setzen se da nich so'n großmächtigen Kasten hin, der das ganze Dörpketal verhunzt. Wissen Se noch, wie hübsch es früher auf der Blaache war? Als junger Bengel habe ich da ofte geschwoft. Da fand damals auch die Heynefeier statt, und abends zog die ganze Schule mit Lampinjons durch's Braate Tor in'ne Stadt. Der Lehrer Bock hat in jahrelanger Arbaat von den Jungens Stocklaternen basteln lassen. Jede war aan klaanes Kunstwerk for sich. Wie hübsch sah das aus, wenn die Jungens singend mit den vielen bunten Lichtern durch die Straßen marschierten!”
    “In diesem Herbst ist übrigens die Jahrhundertfeier des Heynepreises. Die wird wohl ganz besonders gefeiert werden”, sagte ich.
    Bulke winkte trübe ab. “Ich glaube da noch nich an.” - “Wieso?” - “Wenn se man diesen alten Zopp nich auch abschnaaden.” - “Das kann doch nicht wahr sein, lieber Bulke! Die alte Stiftung ist mehrere Mahle erneuert worden, wir haben eine Anzahl angesehener Bürger, die Preisträger sind. Andere Schulen beneiden uns um diesen alten schönen Brauch. Nein, das lassen sich die Goslärschen nicht gefallen. Wer macht denn solche Vorschläge?”
    “Das ist baa der Elternversammlung zur Sprache gekommen. Erstemah wollen se woll den Lichtermarsch abschaffen. Die Schullaatung meint woll, marschieren wäre undemokratisch. Wenn Schützenfest und Wahnachten nich so'n Bombengeschäft wären, hätten se das woll auch all abgeschafft. Die Mehrhaat wird nich groß gefragt, schießlich leben wir ja in aaner Demokratie. - Na, denn Prost!”
    (GZ, 29.03.1969)


    Beste Grüße

    Bergmönch
    Ich kann freilich nicht sagen, ob es besser werden wird, wenn es anders wird; aber soviel kann ich sagen: es muss anders werden, wenn es gut werden soll. (Lichtenberg)

  2. Danke von:

    Eule (01.12.2013),Luzi (22.01.2017)

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